Wenn ich dich hole by Anja Goerz

Autor:Anja Goerz [Goerz, Anja]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Thriller
ISBN: 9783423431453
Herausgeber: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
veröffentlicht: 2017-03-06T23:00:00+00:00

HENRIKE

Wenn man verliebt ist, richtig verliebt, dann hat man keine Zeit mehr. Keine Zeit für Freundinnen, für Sport oder andere Hobbys.

Jede freie Minute ist nur für ihn reserviert.

Weil es das Schönste ist, zusammen zu sein.

Weil es nichts Besseres gibt.

Weil man nichts anderes will.

Das kennt doch jeder.

Jeder, der dieses Herzklopfen, dieses Blutrauschen in den Ohren, diese unglaubliche Freude selbst erlebt hat.

Carola wollte das nicht verstehen.

Immer wieder musste sie Gespräche wie diese aushalten. »Wir haben uns nun schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Du wirst doch wohl mal Zeit für einen Kaffee haben?«

»Für heute Abend haben wir eine DVD ausgeliehen und morgen wollen wir zusammen kochen.«

»Henrike, ich bin es. Deine beste Freundin.«

»Es geht wirklich nicht.«

»Und wie stellst du dir vor, soll das weitergehen? Ich meine, was ist denn zum Beispiel, wenn ihr euch trennt und dann …«

»Wieso sollten wir uns denn trennen?« Es war ihr nicht gelungen, den verächtlichen Unterton zu unterdrücken.

»Ich wollte damit ja auch nur sagen, dass es vielleicht sein könnte, dass du auch mal eine Freundin brauchst, dass du möglicherweise in eine Situation gerätst, in der du dann lieber mit mir als deiner besten Freundin sprechen willst statt mit …«

»Was sollte das denn wohl für eine Situation sein?« Sie war kurz davor gewesen, den Hörer einfach aufzulegen. »Mit ihm kann ich über alles reden. Er liebt mich. Er hat Verständnis, wenn ich mal danebenliege mit meinen Reaktionen, und ich muss mich nicht ständig erklären. Ich weiß ja, dass du noch nie jemanden hattest, in den du so verliebt warst. Und mir ist auch klar, dass für Außenstehende sehr schwer zu begreifen ist, wie das bei uns ist. Aber wenn du so viel Wert darauf legst, dass wir Freundinnen sind, dann hörst du vielleicht auf, neidisch zu sein, und gönnst mir mein Glück ganz einfach.«

»Aber das tue ich doch!« Carola war kurz davor gewesen, in Tränen auszubrechen. »Ich mache mir nur Sorgen um dich.«

»Das ist nicht nötig.«

»Doch, das ist es. Du steigerst dich immer maßlos in so eine Beziehung, hängst mit all deinen Gefühlen drin, und wenn es dann aus irgendeinem Grund nicht funktioniert und der Typ dich hängen lässt, dann …«

»Carola, noch mal zum Mitschreiben: Dieses Mal ist es anders. Dieser Mann ist mein Seelenmensch, wir sind füreinander gemacht. Ich werde nie wieder einen anderen lieben, einfach weil wir uns nicht trennen werden. Ich werde nie wieder …«

»Das kann doch unmöglich dein Ernst sein, du bist nicht einmal zwanzig. Du weißt nicht, wo er studieren wird und ob du dann in derselben Stadt einen Job findest. Du weißt doch heute nicht, ob du in zwei oder zwölf Jahren noch genauso denkst. Du hast doch noch gar nichts von der Welt gesehen.«

»Willst du jetzt auch noch meine Mutter sein?«

Da hatte Carola aufgelegt.

Und sich nicht wieder gemeldet.

Nicht an diesem Tag und auch nicht am nächsten oder übernächsten.

Sie hatte sie einige Wochen später im Bistro getroffen. Zusammen mit einer ehemaligen Klassenkameradin. Carola hatte ihr zugenickt, das war alles.

Aber es war ihr egal.

Sie hatte ohnehin keine Zeit.

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